Paradicta

Projekt Babylon Abschlussbericht (03/2013)

Spracherkennung für Conterganbetroffene

Pilotphase

Gefördert von der Grünenthal GmbH

Das Ergebnis

Das Ziel des Pilotprojektes „Babylon – Spracherkennung für Conterganbetroffene“

15 Conterganbetroffene im Umgang mit der Spracherkennung auszubilden, und sie dazu zu befähigen, am Computer Dokumente, Briefe und Emails per Sprache zu erstellen, zu mailen, zu chatten sowie den Computer per Sprachsteuerung in Teilen zu bedienen wurde vollumfänglich erreicht. Alle Conterganbetroffenen waren nach den Schulungen in der Lage, eine selbständige mediale Kommunikation zu führen und langgehegte Wünsche in Bezug auf diese Kommunikation endlich in die Tat umzusetzen.

Alle Probanden bestätigten in Interviews, dass ihr Alltag eine signifikante Veränderung durch die Möglichkeit des Einsatzes der Spracherkennung erfahren habe und sie den Zugang zu dieser Technologie für alle Conterganbetroffenen ausdrücklich empfehlen.

So schreibt eine der Teilnehmerinnen:

„Es war sehr sinnvoll, da es mir schwer fällt mit der Hand zu schreiben oder auch die Tastatur am Computer zu bedienen. Jetzt kann ich wieder richtig viel schreiben, ohne Rückenschmerzen zu kommen.“

Die Ausgangslage

Die Lebensumstände der noch lebenden ca. 2500 Conterganbetroffenen in Deutschland lassen einen dringenden Handlungsbedarf auch in Bezug auf technische Hilfsmittel und Unterstützung bei der Alltagsbewältigung erkennen. Wie der Bundesgerichtshof im letzten Jahr festgestellt hat, „bedient sich der überwiegende Teil der Einwohner Deutschlands täglich des Internets. Damit hat es sich zu einem die Lebensgestaltung eines Großteils der Bevölkerung entscheidend mitprägenden Medium entwickelt, dessen Ausfall sich signifikant im Alltag bemerkbar macht“. Hierbei steht das Internet für die mediale Kommunikation an sich, zur der auch das Mailen und Chatten, sowie das Verfassen von digitalen Dokumenten und Briefen gehört. Conterganbetroffene haben durch die zunehmende Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Verfassung, durch fortschreitenden Verschleiß des Skelettapparats und ihrer vorgeburtlichen Schädigungen, wie unzureichend ausgebildete Gliedmaßen, schon in der Vergangenheit große Schwierigkeiten gehabt, an der Internet-Kommunikation teilzunehmen, und dies hat in den letzten Jahren eine zunehmend negative Entwicklung genommen. Die Konsequenzen sind nicht nur praktischer, sondern vor allen Dingen auch sozialer Natur, da für viele Schwer-und Schwerstbehinderte das Internet auch als „Kommunikations-Tor zur Welt“ erfahren wird. Nicht zuletzt bedeutet Spracherkennung in diesem Zusammenhang auch den Erhalt von Arbeitsplätzen und neue Berufschancen im Bereich der Büro- und Heimarbeitsplätze.

Aus diesem Grund war es naheliegend, ein Projekt ins Leben zu rufen, welches diesen Umständen begegnet. Das Erlernen des Umgangs mit Spracherkennungssoftware, die die Option bietet, die eingeschränkten körperlichen Möglichkeiten Conterganbetroffener zu kompensieren, in dem sie den Computer mit der Stimme bedienen und Internet-Kommunikation per Sprechen anstatt per Tippen gestalten, stellt eine entscheidende Verbesserung für die Betroffenen dar.

Eine Besonderheit im Rahmen dieser Ausbildung war, dass im Zusammenhang mit dem peer-to-peer-Gedanken einer der Trainer selbst Conterganbetroffener ist und er zudem auch noch als dreifach Betroffener den höchsten Behinderungsgrad aller Teilnehmer in diesem Projekt aufweist.

Das Pilotprojekt

Aufgabe war es zu evaluieren, inwiefern es möglich ist, Conterganbetroffene in relativ kurzer Zeit im Umgang mit Spracherkennungssoftware auszubilden, so dass diese im Anschluss an das Projekt selbstständig mit diesem technischen Hilfsmittel arbeiten können und inwieweit sich eine solche Maßnahme in einem bestimmten Bereich der alltäglichen Lebenserfahrung als signifikante Verbesserung erweist.

Anforderung an das Pilotprojekt war festzustellen, welche besonderen inhaltlichen, organisatorischen und didaktischen Erfordernisse für eine so spezifische Maßnahme mit einer so spezifischen Personengruppe erforderlich sind, um zu einem erfolgreichen Ergebnis in der Form zu gelangen, dass ein Anbieten dieser Maßnahme für alle noch verbliebenen Conterganbetroffenen in Deutschland sinnvoll erscheint.

15 Probanden wurden im Rahmen des Pilotprojektes im Umgang mit der Spracherkennung ausgebildet. Zehn von ihnen in zwei Gruppen zu je fünf Teilnehmern und fünf von ihnen in Einzelschulungen.

Über 60 Interessierte bewarben sich bei uns, obwohl es von unserer Seite im Vorfeld des Projekts keinerlei Werbung für dieses gegeben hat. Lediglich in einem Email-Rundbrief des Landesverbands NRW ist auf das Projekt hingewiesen worden. Das Interesse der Betroffenen an einer Teilnahme war überwältigend.

Die Auswahl der Teilnehmer erfolgte nach unterschiedlichen Kriterien: u.a. existierende Berufstätigkeit, soziales Umfeld (Stichwort „Vereinsamung“), Sprechfähigkeit, grundlegende IT-Kenntnisse.

Diejenigen, die nicht (mehr) berufstätig waren oder sind, wurden hierbei bevorzugt ausgebildet. Berufstätigen steht zumindest theoretisch die Möglichkeit offen, nach Antrag des Arbeitgebers eine Bezuschussung oder Kostenübernahme für den Erwerb der Hard- und Software, sowie der Schulung genehmigt zu bekommen. Allerdings könnten solche Probanden in der Regel nicht an einer Gruppenschulung teilnehmen. Arbeitgeber, die bereit sind solche Anträge zu stellen, sind rar gesät und die Betroffenen scheuen sich, aus Angst ihren Arbeitsplatz zu verlieren, ihren begründeten Anspruch geltend zu machen. Das Antragsprozedere, dies ist auch zu berücksichtigen, zieht sich dabei über viele Monate hin.

Die Gruppenschulungen hatten einen Zeitrahmen von 20 Unterrichtsstunden (4 Tage á 5 Std. mit jeweils 2 Std. Pause je Tag) und wurden in den Städten München und Aachen ausgestaltet.

Durchgeführt wurden sie mit je zwei Dozenten – wobei einer den Unterricht führte und der andere jeweils da, wo Unterstützung geleistet werden musste, direkt bei der Teilnehmerin oder dem Teilnehmer tätig wurde – sowie notwendigerweise ständiger Anwesenheit von Assistenz. Der soziale Aspekt innerhalb einer Gruppe wurde von den Teilnehmern einstimmig als besonders wichtig empfunden. Die Anzahl der Teilnehmer und Teilnehmerinnen auf fünf je Gruppe zu beschränken, ist aufgrund der Intensität einer Schulung von Schwerbehinderten absolut sinnvoll. Der erzielte Lernerfolg war beeindruckend – auch und gerade für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst.

„Ich hätte nie gedacht, dass Lernen mir heute noch so viel Spaß machen würde und dass ich dabei so viel Erfolg habe.“ (Eine Teilnehmerin)

Die Einzelschulungen wurden in den Privatwohnungen der Teilnehmer durchgeführt. Auch wenn man zuerst annehmen könnte, dass der Lernerfolg durch die intensive Einzelbetreuung höher ist als in den Gruppenschulungen, so hat sich doch gezeigt, dass die Gruppenmotivation einen entscheidenden Faktor darstellt und zu mehr Begeisterung führt. Dennoch ist das Anbieten von Einzelschulungen obligatorisch, da eine Vielzahl von Gründen, persönlicher und beruflicher Natur, die Teilnahme an Gruppenschulungen verhindern kann.

Resümee

In der Nachbetrachtung empfinden alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre neu erlernten Fähigkeiten als Gewinn. Mit der Leichtigkeit, mit der diese jetzt fähig sind, auch längere Texte zu verfassen oder längere Dialoge im Chat zu führen, gewinnen sie ein hohes Maß an Teilhabe, Kreativität und Freiheit.

Die Auswahl der Hotels und Tagungsorte ist durchaus zeitaufwändig und abhängig davon, wie sich die jeweilige Gruppe zusammensetzt. Je nach Schädigung, sind unterschiedliche Anforderungen zu berücksichtigen. Hotels mit „Closomat“, die auch ohne Arme zu benutzen sind, gibt es quasi gar nicht. Deshalb ist Assistenz unverzichtbar. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde mitgeteilt, dass sie eine Begleitperson mitnehmen durften – wie sich allerdings herausstellte, war fast niemand in der Lage, eine solche Begleitung mitzubringen.

Dass wir mit Herrn Hafeneth einen Conterganbetroffenen in den eigenen Reihen haben, erwies sich dabei als großer Vorteil. Er konnte gezielt erfragen, wo und in welchem Umfang Hilfe benötigt wurde, so dass wir im Vorfeld entsprechende Assistenz organisieren konnten. Allerdings stellte sich in Einzelfällen heraus, dass der Bedarf höher war, als von Teilnehmerinnen und Teilnehmern vorab eingeschätzt wurde.

Hier muss in Zukunft, unabhängig von der jeweiligen Selbsteinschätzung der Probanden, a priori ein höherer Bedarf eingeplant werden.

Die Reisekosten konnten teilweise von den Conterganbetroffenen nicht aufgebracht werden.


Gruppenschulungen vs. Einzelschulungen

Gruppenschulungen haben sich, wie bereits oben ausgeführt, bewährt und sind den Einzelschulungen daher vorzuziehen. Hier jedoch ist es ratsam auf Homogenität der Gruppen zu achten.

Einzelschulungen sind dann ratsam, wenn Arbeitsplätze eingerichtet werden sollen. Mitunter ist es auch angebracht, aufgrund der persönlichen häuslichen Situation, zuhause zu schulen. Hier ist allerdings der zeitliche und somit auch kostentechnische Aufwand um ein Vielfaches höher.


Hard- und Software

Weltweit ist die Firma Nuance mit ihrer Spracherkennungssoftware Dragon NaturallySpeaking führend und besitzt quasi ein Monopol in diesem Bereich, so dass es faktisch keine andere Software gibt, die zur Auswahl stünde. Obwohl es sich hierbei ohne Zweifel um eine hochentwickelte Technologie handelt, so ist dennoch festzustellen, dass sie nicht schwerpunktmäßig für

Schwerbehinderte entworfen wurde. Vor allen Dingen der Bereich der Sprachsteuerung des Computers kommt zu kurz. Ein amerikanischer Dritthersteller hat hier eine Zusatzsoftware entwickelt, die Dragon NaturallySpeaking um viel Komfort und vermisste Funktionen erweitert. Bedauerlicherweise ist diese Software nur für englischsprachige Versionen der Microsoft Betriebssysteme verfügbar. Der Hersteller wäre zwar grundlegend daran interessiert, sie auch für den deutschsprachigen Markt zur Verfügung zu stellen, scheut allerdings die Entwicklungskosten, die eine solche Portierung bedeutet.

Die von der Grünenthal GmbH zur Verfügung gestellten Laptops waren bezüglich der Leistung ausreichend dimensioniert. Ein Wunsch einzelner Teilnehmer waren allerdings Geräte, wo das Touchpad aus Sicht des Benutzers hinter der Tastatur liegt, anstatt wie üblich, davor. Dies käme besonders den kurzarmigen Conterganbetroffenen zu gute.

Bedauerlicherweise wurden alle Laptops fehlerhaft konfiguriert von der Firma Dell ausgeliefert, so dass hier seitens der Firma Paradicta zeitaufwändig nachgearbeitet werden musste.

Bei den Mikrofonen bzw. Headsets stellte sich heraus, dass einige Teilnehmer grundsätzlich Schwierigkeiten hatten, sich diese aufzusetzen. Standmikrofone stünden bei Laptops entweder vor dem Bildschirm oder seitlich daneben. Dies ist in beiden Fällen äußerst unkomfortabel. Um hier eine völlige Unabhängigkeit von Assistenz zu erreichen, bedarf es in Sachen Mikrofone eines grundsätzlich anderen ergonomischen Konzepts. Wiederrum ein amerikanischer Hersteller hat sich interessiert gezeigt, eine Neuentwicklung zu übernehmen. Die Firma Paradicta ist hier in Kontakt.